Damit man nicht vor einem leeren Blatt sitzt – das ist ja manchmal sehr unangenehm – wird die Fläche erst einmal mit einem Bleistift aufgeteilt. In diese kleineren Flächen werden dann die Muster gemalt, die meistens aus einer Kombination aus den fünf Grundstrichen bestehen. Zum Beispiel ein Punkt, eine S-förmige Linie, ein Kreis, eine Kurve oder eine gerade Linie. Wenn man die kann, kann man auch tangeln.
Das heißt, man muss nicht besonders künstlerisch begabt sein?
Überhaupt nicht, eher im Gegenteil: Leute, die sagen “Ich kriege keine gerade Linie hin, ich kann das gar nicht” sind plötzlich überrascht, was sie da zustande bringen. Die sitzen dann davor und denken: “Wow, das habe ich gemalt?”. Das ist jedes Mal eine Freude zu sehen. Manche Menschen haben die Begabung, sich einfach hinsetzen zu können und etwas Wunderschönes zu malen. Allen anderen Menschen gibt Zentangle das Handwerkszeug dazu, genau das auch zu schaffen.
Okay, das ist also der künstlerische Aspekt. Aber wieso entspannt das?
Man zeichnet sich wiederholende Muster, macht immer wieder die gleichen Bewegungen. Das Ganze ist eher ruhig und bedacht und man muss nicht großartig planen oder darüber nachdenken. Wenn ich tangele muss ich nicht entscheiden, was der nächste Schritt ist oder welche Farbe ich benutzen soll. Das bewirkt auch, dass die rechte Gehirnhälfte benutzt wird. Man ist völlig konzentriert auf das, was man gerade tut und die Gedanken können fließen. Dadurch kommt man zur Ruhe. Und deswegen kann man Zentangle auch ganz einfach zusammenfassen: Es ist meditatives Zeichnen.
Wie viel Zeit braucht man dafür?
Die Grundidee von Zentangle ist, dass man keine Tage oder Wochen braucht, um ein fertiges Produkt zu haben. Aus diesem Grund sind die Kacheln, auf denen man normalerweise tangelt, nur 9x9cm groß. Je nachdem wie intensiv man die Kachel bearbeitet, kann man 15 – 120 Minuten brauchen, um sie fertigzustellen. Das Schöne ist aber, dass auch die einfachen, schnellen Muster für Anfänger schon sehr gut aussehen und man auch sehr leicht eine Pause einlegen kann. Man kann also sagen: Ich nehme mir eine kurze Auszeit von fünf Minuten und arbeite ein bisschen an meiner Kachel weiter und irgendwann ist sie dann fertig.
Und was für ein Equipment braucht man?
Das ist ein weiterer Punkt, der Zentangle so super macht. Ich brauche kaum Ausrüstung dafür. Es reicht, eine Kachel zu haben oder ein Stück Papier in der passenden Größe, einen Bleistift und einen Fineliner. Theoretisch kann man es aber auch mit einem Stock im Sand machen. Ich persönlich finde es wichtig, dass man möglichst hochwertige Materialien nutzt. Sprich: Die Originalkacheln oder zumindest ein hochwertiges Papier und einen Fineliner von guter Qualität. Vielleicht kennst du das Gefühl: Das Arbeiten mit hochwertigen Materialien macht mehr Spaß und gibt ein gutes Gefühl. Es wertet auch automatisch die Arbeit auf. Ich tue mir also selbst etwas Gutes und was ich mache, ist wertvoll. Es macht ja auch mehr Spaß, ein Buch mit gutem Papier zu lesen. Es ist wirklich wichtig, wie sich etwas anfühlt.
Bedeutet das dann hohe Kosten?
Nein. Einen guten Fineliner kriegt man schon für zwei bis drei Euro. Achtet darauf, dass “Archiv-Qualität” oder „Dokumentenecht“ draufsteht. Die Kacheln kann man aktuell nur aus Amerika importieren, das ist natürlich nicht ganz so günstig. Ich werde sie demnächst in meinem Shop anbieten, da kosten dann zehn Stück 5,50 Euro. Und wem das zu viel ist, der kann wie gesagt auch auf Papier tangeln. Auf gutem Papier! Also wirklich ein preiswertes Hobby.
Sehr gut. Wo kann man Zentangle denn lernen?
Aktuell gibt es in Deutschland nur zwei zertifizierte Trainerinnen (CZT, certified zentangle teacher), mich hier in Hamburg und meine Kollegin in München. Es gibt auch Bücher zum Thema und sehr viele Informationen im Internet. Der Vorteil an Kursen bei einem CZT ist natürlich, dass man in Gemeinschaft übt, dass man wirklich abschalten kann und nicht gestört wird von Personen, die vielleicht in den Raum kommen. Man hat eine richtige Auszeit. Außerdem ist Zentangle einfach mehr als man aus Büchern lernen kann. In meinen Kursen habe ich eine maximale Teilnehmerzahl von zehn Personen, damit ich mich um alle einzeln kümmern kann. Das ist also überschaubar. Und die Atmosphäre eines solchen Kurses kann man in Büchern natürlich nicht finden.
Gibt es auch unterschiedliche Schwierigkeitsstufen für Anfänger und Fortgeschrittene?
Natürlich! Es gibt Muster, die besonders gerne für Einsteiger verwendet werden. Man kann den Schwierigkeitsgrad auch über die Art der Kacheln steigern. Als erstes werden weiße Kacheln mit schwarzem Stift verwendet. Danach kommen schwarze Kacheln mit weißem Stift, das ist schon schwieriger. Und zuletzt – das ist ganz neu – gibt es auch Renaissance-Kacheln. Die sind braun und können sowohl mit schwarzem Stift betangelt, als auch mit weißen Highlights verziert werden. Das sieht wirklich sehr künstlerisch aus und wäre die schwierigste Stufe.
Und dann?
Wenn einem das irgendwann zu langweilig werden sollte, kann man Zentangle auch gut in andere Kunstformen integrieren. Man kann es in Gemälde mit einbeziehen oder Zeichnungen zu einem Teil mit Zentangle gestalten und zu einem anderen Teil nicht. Man kann auch das Material ändern, auf dem man tangelt. T-Shirts, Schuhe, Lampenschirme, sogar Autos, der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Das Tolle ist: Zentangle regt unter anderem die Kreativität an. Ich habe schon oft gehört, dass jemand, der früher einmal gezeichnet hat und eine langjährige Pause hatte, durch Zentangle zurück zu seiner Kunst gefunden hat. Das habe ich auch selbst erlebt und das ist eine wunderbare Erfahrung.
Kann Zentangle noch mehr leisten als Entspannung und Kreativitäts-Entfaltung?
Absolut. In den USA, wo Zentangle schon weiter verbreitet ist als bei uns, wird es unter anderem zur Therapie verwendet. Es hilft bei Depressionen und der Trauerverarbeitung, bei Konzentrationsstörungen und zur Verbesserung der Feinmotorik. Daher ist es auch für Kinder gut geeignet. Und es kann bei Schlafstörungen helfen, dadurch dass der Geist zur Ruhe kommt. Ich habe sogar einmal gelesen, dass eine Frau ihre Migräne durch Zentangle in den Griff bekommen hat. Geist und Körper hängen eben zusammen und es ist sehr spannend, das zu beobachten.
Und hier könnt ihr euch einmal anschauen, wie eine Zentangle Kachel entsteht.
Vielen Dank für das Gespräch, Anya, und frohes tangeln!